Sie hetzten durch den Wald. Ihre Verfolger waren ihnen dicht auf den Fersen, schickten ihnen Drohungen, Flüche und Pfeile hinterher. Ein Pfeil hatte Erin am Oberarm getroffen, doch er achtete nicht auf die blutende Wunde. Seine ganze Sorge galt seinem Gefährten Drystan. Die Wunde von einem Wurfmesser, die er bei ihrer Flucht aus dem brennenden Dorf davongetragen hatte, macht ihm zu schaffen. Er war kein Krieger, sondern ein Gelehrter und Druide. Die Hetzjagd und der Blutverlust hatten ihn erschöpft. Immer wieder stolperte er und sein Atem ging schwer. Erin schleifte ihn mehr, als dass er selber lief. Tief in seinem Inneren wusste er, dass Drystan dieses Tempo nicht mehr lange durchhalten würde, doch Erin wollte nicht aufgeben. Das wäre ihrer beider Tod, denn ihre Verfolger kannten kein Erbarmen. Sie hatten das ganze Dorf niedergemacht. Frauen, Kinder und Alte getötet, ihre Behausungen in Brand gesetzt. Für die Eroberer aus Rom galt Erins Volk als barbarisch und grausam, aber sie selbst mordeten und brandschatzten für ihren Kaiser. Wo war da der Unterschied?
»Lass … mich zurück«, keuchte Drystan. »Rette dich selbst, Liebster. Ich halte dich nur auf.«
»Niemals!« Erin hielt kurz inne, gab seinem Geliebten Zeit, etwas zu Atem zu kommen, doch ihre Frist war begrenzt. Ihre Verfolger holten auf. Zu Pferd waren sie einfach schneller, auch wenn die Bäume und das Dickicht sie auf ihrer Jagd behinderten. Rufe schallten durch den Wald. Pfeile flogen, ungezielt zwar, dennoch gefährlich. Sie verfehlten sie nur knapp. Einer schlug in den Baum direkt neben ihnen ein.
»Wir müssen weiter.« Erin zog Drystan mühsam hoch und zerrte ihn mit sich. Auch seine Kräfte schwanden rapide. »Ich weiß, du bist erschöpft, aber wir können es bis zum nächsten Dorf schaffen.« Erin und Drystan waren auf dem Rückweg von einer befreundeten Sippe gewesen, als sie mitten ins Chaos aus Blut, Tod und Gewalt gerieten. Als sie erkannten, dass sie niemandem mehr helfen konnten, flüchteten sie in den Wald. Erin hatte gehofft, dass sie im Dickicht und auf geheimen Pfaden ihre Verfolger abhängen konnten, doch diese hatten viel schneller als erwartet ihre Spur aufgenommen.
Ihr Götter, helft uns. Bitte.
So kämpften sie sich weiter, keuchend und nach Luft ringend, aber Erin wusste, dass sie kaum noch eine Chance hatten. Er wollte allerdings auch nicht wie ein Lamm darauf warten, wehrlos abgeschlachtet zu werden. Plötzlich tat sich vor ihnen eine Lücke im Dickicht auf. Erin fackelte nicht lange, packte Drystan und zerrte ihn weiter. Sie standen auf einer kleinen beinahe kreisrunden Lichtung. In der Mitte wuchs ein hoher Baum mit ausladender dichter Laubkrone. Das Gras wuchs hoch, würde ihnen aber kaum genug Deckung geben. Erin warf einen Blick zurück. Wie viel Zeit blieb ihnen noch? In diesem Moment surrte ein Pfeil wie aus dem Nichts heran. Ein dumpfer Schlag. Drystan stolperte und stürzte zu Boden.
»Nein!« Erin fiel auf die Knie und drehte seinen Geliebten behutsam um. Der abgebrochene Schaft eines Pfeils steckte in seiner Brust. »Oh ihr Götter, nein!« Viel zu viel Blut quoll aus der Wunde und aus Drystans Mund. Der Pfeil hatte ihn tödlich verletzt, doch Erin wollte das nicht akzeptieren. »Halte durch, ja? Wir werden es schon irgendwie schaffen.«
Drystan hob eine zitternde Hand und berührte Erins Wange. Seine Finger waren eisig kalt. »Mo chroí(FN Mein Herz.FN), die Römer haben alle getötet.«
»Im nächsten Dorf …«
»Zu weit. Sie werden mir nicht mehr helfen können. Der Tod greift bereits nach mir. Die Götter der Anderswelt warten auf meine Seele.« Drystan hustete. Mehr Blut quoll aus einem Mund. »Bestatte meinen Körper an den Wurzeln dieses Baums dort. Trage mein Wissen weiter und das unseres Volkes. Nimm … meinen Ring als Andenken an unsere Liebe.«
Erin schüttelte verbissen den Kopf. »Ich bin kein Druide, nur ein einfacher Krieger. Ohne dich – bin ich gar nichts. Du bist die Wärme in meinem Herzen, das Licht in meiner Seele.«
Drystan lächelte mühsam. Das Leben wich rasend schnell aus seinem Körper. »Ich werde immer bei dir sein, mo chroí. Die Götter haben … unsere Seelen vereint. Auch der Tod kann uns nicht trennen.« Er rang nach Luft, sein Gesicht verlor alle Farbe. »Tá grá … agam dhuit(FN Ich liebe dich.FN).« Nur noch als leiser Hauch drangen diese Wörter an Erins Ohren. Drystans Brust hob und senkte sich ein letztes Mal. Seine Hand glitt von Erins Wange ab und sank zu Boden. Er war tot.